Andacht für Karfreitag, den 10. April 2020
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Gemeindeglieder,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ So ruft es Jesus als er seine letzten Atemzüge macht. Er hängt dort am Kreuz. Weit oben, so dass alle ihn sehen können. Das Kreuz mit diesem Mann dort oben wird zum Mahnmal. Schon damals für die, die dabeistehen, und auch heute noch für uns. Das Kreuz mahnt. Es macht uns das unvorstellbare Leid zum Bild. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Welch anderes Wort würde besser zu diesem Schmerz, dieser Gewalt, diesem bevorstehenden Tod passen?!
In diesem Satz steckt so viel Inhalt, obwohl es ja eigentlich nur ein paar Worte sind. Schon die Anrede macht bewusst, dass Jesus seinen Vater immer noch als seinen Gott ansieht. An seiner Existenz besteht für Jesus kein Zweifel. In seinem letzten Satz steckt tatsächlich noch ein Glaubensbekenntnis. So wie: Ich glaube an dich Gott, du bist mein Gott!
Und doch: Es gibt Zeiten im Leben, in denen es auch um uns herum dunkel wird. Zeiten, in denen unser eigenes Licht, unsere eigene Kraft nachlässt. In anderer aber vielleicht ebenso bedroh-licher Form, wie damals für Jesus.
Und so steckt im Folgenden das, was viele Menschen in ihrem Leben irgendwann einmal spüren oder gespürt haben. Die Frage danach: „Gott, wo bist du denn nur? Wo warst du als…? Warum hast du das zugelassen, warum warst du nicht da? Warum hast du mich verlassen? Was hat das alles für einen Sinn?“
Auch heute, in diesen Wochen schaue ich auf die Bilder in Italien, Spanien und den USA. Mit Schrecken und großem Schmerz im Herzen denke ich an Menschen, denen nicht mehr geholfen werden kann, weil es keine Möglichkeiten mehr gibt. Ich denke an Menschen, die von ihren Angehörigen nicht mehr Abschied nehmen können, weil der Kontakt zu gefährlich wäre. Ich denke an Menschen, deren Lebenspartner im Pflegeheim ist, zu dem man nun keinen Zugang mehr hat. Ich denke an Eltern und Kinder, deren Geduld aufs äußerste angespannt ist. Und gleichzeitig weiß ich auch, dass da noch viel mehr Schmerz und Leid in unserer Welt ist, die über dieses eine Virus hinaus gehen.
Doch auch wenn wir, weil es uns gerade so nahe geht, nur auf die Auswirkung eines Virus schauen…Wo liegt der Sinn des Ganzen? Worin davon soll der Sinn liegen, dass vielleicht hunderttausende Menschen auf der ganzen Welt an diesem Virus sterben müssen?
Ich weiß darauf keine Antwort. Und das wiederum ist, so glaube ich, die einzige Antwort, die wir geben können. Dieses Virus ist grausam und sinnlos.
Es geht gegen meinen Glauben, ihm einen Sinn unterstellen zu wollen. Denn ich bin fester Glaubensüberzeugung, dass dieses Virus keine Strafe Gottes ist, der damit die Menschheit zu züchtigen versucht. Nein. Dieses Virus ist sinnlos. Sinnlos, wie so vieles, was uns in unserem Leben zustößt.
Auch der Tod am ersten Karfreitag ist ein Akt, dessen Sinn sich uns nicht erschließt. Denn wo ist der Sinn für denjenigen, der da leidet mit Wunden und blutüberströmt? Oder auch für die, die dabeistehen und mit Jesus leiden? Denen der Atem wegbleibt, weil das mitanzuschauen einem das Herz zerreißt? Es war der Gipfel der Grausamkeit. Nein, an Karfreitag deutet noch nichts darauf hin, dass dieser Tod irgendeinen Sinn haben könnte.
Und doch, das Kreuz – das Zeichen des Todes Jesu – ist in allen christlichen Kirchen zu finden. Auf dem Altar steht es. Meist mit dem Körper Jesu. In vielen Gesichtern der verschiedenen Kreuze sieht man den Schmerz und die Verzweiflung eingebrannt. Hört man fast das letzte Wort: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Heute stehe ich nicht in der Kirche oder Kapelle. Begehe nicht mit Ihnen und euch diesen Tag in üblicher Weise. Und doch schaue ich mir heute ein Kreuz an. Ich schaue auf zu dem, der da hängt.
Wenn ich in sein Gesicht schaue, wird mir schwer ums Herz. Und doch kommt mir ein Gedanke: Nichts kann so schlimm sein, dass mein Gott davor wegläuft. Nichts kann so schlimm sein, dass mein Gott davor die Augen verschließt. Er bleibt bei uns, auch wenn es um uns herum sinnlos und grausam ist. Jesus Christus ist eben nicht vom Kreuz gestiegen und hat gesagt: ‚Was gehen mich Eure Schmerzen an?‘ Und genauso wenig verlässt er uns jetzt in dieser Krise. Er bleibt bei uns. Er hält unseren Schmerz, unsere Angst, unsere Krankheit gemeinsam mit uns aus.
Darin liegt so unendlich viel Liebe. Und diese Liebe ist ansteck-end. Der Gekreuzigte scheint zu sagen: Verschließt auch ihr eure Augen und eure Herzen nicht vor dem Leid auf der Welt. Schaut genau hin, wo Menschen jetzt Eure Hilfe brauchen. Vergesst sie nicht, weil ihr euch um euch selbst sorgt. Denkt an die Flüchtlinge in den Lagern, denkt an die Alten und ihre Pflegerinnen und Pfleger in den Heimen, denkt an die Menschen in den Kliniken, denkt an die Kinder in den engen Wohnungen. Denkt an sie und tut, was ihr tun könnt. Vergesst euch gegenseitig nicht. Ich vergesse euch auch nicht. Das ist es, was für mich den Karfreitag in dieser Zeit zu einem so tröstlichen Tag macht, trotz aller Grausamkeit und trotz aller Sinnlosigkeit.
Da stehe ich. Unter dem Kreuz. Ich schaue auf zu dem, der da hängt. Und ich denke mir: Nein, natürlich ist diese Krise nicht das Ende. Sie wird vorübergehen. Noch können wir das nicht sehen. Noch ist Karfreitag. Noch.
Bleiben Sie und bleibt ihr behütet!
Ihre und eure Pastorin Sina Schumacher