Impuls für Sonntag, den 24. Mai 2020 (Exaudi)
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Gemeindeglieder,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
dem ein oder anderen habe ich die folgende kleine Begebenheit, die ich vor ein paar Jahren miterlebt habe, schon einmal berichtet:
Die Schlangen an den Kassen des schwedischen Möbelhauses sind lang. Jede Kasse ist mit einem Mitarbeiter besetzt und doch stehen Menschen mit ihren Einkaufswagen aufgereiht meterlang hintereinander. Auch ich stehe etwas genervt in der Warteschlange, als ich vor mir eine Frau und ihre kleine Tochter entdecke. Die Mutter, ebenso genervt wie ich, schaut sich immer wieder um. So als ob sie Ausschau auf eine schnellere Kasse hielte. Das kleine Mädchen sitzt auf dem Einkaufwagen, dessen Platte vollgestapelt mit Kartons ist. Das Mädchen lässt die Beine baumeln. Man sieht ihr an, dass sie die Anspannung der Mutter spürt. Auch sie schaut abwechselnd auf die vielen langen Beine vor ihr und auf ihre baumelden Beine. Doch dann schaut sie auf einmal nach oben und fragt: „Mama, duhu?“ „Ja, Lisa, was ist denn?“, dreht sich ihre Mutter zu ihr um. „Du, wie viel kostet das?“ Lisa zeigt auf einen der Kartons. „Das Regal kostet knapp 100 Euro.“ „Ist das viel?“, fragt Lisa. „Ja, das ist schon ganz schön viel Geld.“ „Mh.“ In Lisas Kopf scheint es zu arbeiten. „Mama, und wie viel kostet das?“ Sie zeigt auf ein anderes, kleineres Paket. „Das kostet nicht ganz so viel. Ist ja auch kleiner.“, sagt die Mutter. Wieder arbeitet es in Lisa. Dann beginnt sie in der großen, gelben Plastiktüte zu kramen. Sie zieht eine Stoffeule raus. „Und wie viel kostet meine neue Eule?“ „Die ist gar nicht teuer, deswegen habe ich dir ja erlaubt, sie einzupacken, obwohl sie nicht auf der Liste steht“, gibt die Mutter zu bedenken. „Du, Mama“, Lisa druckst herum. „Sind die großen Sachen immer viel teurer?“ „Na du stellst ja Fragen, mhh, meistens sind große Dinge teurer, ja. Aber nicht immer. Auch ganz kleine Dinge können kostbar und richtig teuer sein.“ Da strahlt Lisa auf einmal über beide Ohren. „Mama, wie teuer bin ich?“
Ich erinnere mich, wie ich auf einmal ganz gefesselt von der Situation war. Um mich herum wurde es gefühlt ganz leise und wie auf einer Theaterbühne spielten Mutter und Tochter ein kleines Stück auf. Ein Stück aus dem Leben. Ein Stück, das so alltäglich und zugleich so besonders war. Um die beiden herum brummte das Leben weiter, doch die beiden, wie in einer Blase eingehüllt beschäftigten sich mit einer wichtigen Frage.
Wie teuer – anders gesagt – wie wertvoll bin ich?
Die Frage des Mädchens ließ mich staunen. Denn ich fand die Schlussfolgerungen, die sie in ihrem Kopf zog, so unglaublich logisch. Obwohl sie es nicht direkt aussprach, wusste man, was sie denkt. Ich konnte ihre Sorge spüren, dass in unserer Welt vielleicht nur die großen Dinge teuer und wertvoll sind. Wie klein sie dagegen doch war. Gut, so mancher Erwachsene kann nun sagen. So ein Kind hat die Welt ja auch noch nicht genau verstanden. Hat die ethischen Fragen, die dahinter stecken, noch nicht durch-reflektiert. Das mag stimmen. Und doch, ist diese Frage nicht ungemein berechtigt? Wie wertvoll bin ich. Wie wertvoll im Vergleich zu dem oder der neben mir? Steckt da nicht eigentlich die Frage dahinter: Was macht mich aus? Macht mich besonders? Und letztlich: Wie stark werde ich geliebt?
Das Mädchen stellte sich diese Fragen an einem Ort, an dem es um Preise und Werte geht. Aber vor allem stellte sie sich diese Fragen zu einer ganz besonderen Zeit. Denn es war nicht die Zeit, in der sie durch die kleinen eingerichteten Wohnzimmerbeispiele durchlief. Auch nicht im Restaurant. Und ebenso wenig beim Aufladen der großen Pakete auf den Wagen. Sie fragte dies in der Warteschlange. In der Zeit des Wartens und der Anspannung und der Ungewissheit, wie lange es noch dauern würde. Da – genau da kommt das Thema auf. Wie wertvoll und geliebt bin ich?
In der Warteschlange – irgendwie ja ein bisschen so eine Zeit, wie wir sie gerade erleben! Und zugleich befinden wir uns auch kirchenjahreszeitlich darin, könnte man sagen. In der Warteschlange. Wir haben in den letzten Wochen die unglaublichen Tiefen und Höhen von Jesu Weg mitverfolgt. Erst die lange Zeit der Passion. Die Zeit des Dunkels, des Todes. Warten auf Ostern, welches auch kam. Der große Osterjubel gefolgt von Geschichten, die von dem Auferstandenen und dessen Wirken berichten. Und dann vor drei Tagen. Ein Schlussstrich, jedenfalls könnte man das meinen. So haben es sicherlich auch einige der Jünger von damals empfunden. Himmelfahrt. Jesus geht nun endgültig. Nicht in den Tod, sondern zu seinem Vater. Aufgefahren in den Himmel. Und sie, die Jünger, bleiben zurück. Doch nicht ohne ein zusammenhaltendes Wort. Jesus prophezeit ihnen den Geist Gottes. Den Tröster, der vom Himmel kommen wird und sie ausfüllen wird.
Warteschlange. Nicht nur eine leidige halbe Stunde, sondern einige Tage. Warten, auf den Geist, der da kommen soll, damit wir Menschen nicht allein sind und bleiben. Gottes Geist. Kräftig und dynamisch wird er in der Bibel beschrieben. Er wirkt in den Menschen. Der Geist – eine im besten Sinne treibende Kraft, die ich brauche. Die ich brauche, auch um an der Liebe festzuhalten. Der Geist gibt in meinem Herzen den Raum frei, der manchmal so gefüllt ist mit anderen, oftmals unwichtigen Dingen. Er macht Platz dafür, nicht nur auf mich zu schauen, sondern auch den nächsten wahr-zunehmen. Nicht nur seine Äußerlichkeiten, sondern das, was ihn wirklich ausmacht. Seine Geschöpflichkeit. Das, was auch Gott sieht, wenn er uns anschaut. Der Geist setzt in mir die Kraft frei, liebevoll und gnädig auf andere Menschen zu schauen. Denn nur so kann es gelingen, in einer Gemeinschaft zu leben und letztlich auch Krisenzeiten gemeinsam zu überstehen.
Auch in den Warteschlangen unseres Lebens, in den Zeiten der Ungewissheit und der Anspannung, wie wir sie gerade erleben, in diesen Zeiten brauche ich einen Mitmenschen, der mir sagt, wie kostbar und wie geliebt ich bin. Da brauche ich Gottes Geist der in mir und meinen Mitmenschen wirkt!
In der Schlange im Möbelhaus. Die Frage steht in der Luft. Mama, wie teuer bin ich? Gespannt warte ich, wie Lisas Mutter reagiert. Doch zunächst reagiert sie fast gar nicht. Sie scheint fast schon geschockt zu sein von dieser Frage. „Lisa“, sagt sie und kniet sich dabei zu ihrer Tochter herunter, „das kann ich dir nicht beantworten.“ Das Mädchen runzelt die Stirn. „Man kann Menschen keinen Preis geben. Jeder Mensch ist kostbar. Nicht zu bezahlen. Egal ob er groß oder klein ist.“ Tolle Antwort, denke ich. Doch damit will sich Lisa nicht zufriedengeben. „Aber wenn du dir für mich einen Preis ausdenken müsstest, wie teuer bin ich für dich?“ Die Mutter schluckt. „Dann wäre das die größte Zahl, die du je gesehen hast. Die wäre auf einem Kassenzettel so lang, dass du, um ihn einmal durchzulesen, ein ganzes Leben lang Zeit bräuchtest.“ Lisa macht große Augen. „Ein ganzes Leben… so lang…“, sagt sie. Die Mutter nickt. „Aber weißt du was? Auch wenn mir jemand diesen Preis nennen würde, du bist unverkäuflich. Weil du ein Teil von mir bist.“
Bleiben Sie und bleibt ihr behütet!
Ihre und eure Pastorin Sina Schumacher